Ready-To-Wear? • Karla Huff

Sommersemester 2024 • Bachelorarbeit • Betreuung: Gastprofessorinnen Anna Gronemeyer und Julia Kortus

Wann hört ein Textil auf und wann fängt ein Kleidungsstück an?
Die zentrale Frage ist: Was benötigt ein Textil, um als tragbar definiert zu werden? Ist die
Weiterverarbeitung von Textilien in herkömmlicher Art notwendig, um sie zu etwas Tragbarem zu machen, oder reicht schon das Tragen am Körper aus, um sie als solches zu definieren? Angelehnt an klar erkennbare Kleidungsstücke wurden Handlungsanweiungen in Form von Öffnungen in die textilen Flächen integriert. Sie laden zum intuitiven Umgang am Körper und zur Interpretation der Teile als Kleidungsstücke, Accessoires oder Styling-Pieces ein. Ein Teil der Antwort auf die anfängliche Frage, was ein Textil tragbar macht, liegt in der Kommerzialisierung und der damit einhergehenden Definition der Gestricke als etwas Tragbares.

Kleidung und Textilien als Sprache der Selbstinszenierung Im Laufe seiner Evolution entwickelte der Mensch die intuitive Fähigkeit, verschiedene Materialien zu verwenden und sie um seinen Körper zu wickeln. Diese frühen Kleidungsstücke hatten eine klare funktionale Rolle: Sie boten Schutz vor Kälte und Verletzungen und dienten als Tarnung bei der Jagd. Mit der kontinuierlichen Weiterentwicklung von Flecht- und Webtechniken und der Herstellung komfortablerer und vielseitigerer Stoffe begann das Schmücken des Körpers durch Kleidung. Kleidung war nicht mehr nur eine rein funktionale Sache, sondern nahm die Rolle des Selbstausdrucks und der Eigeninszenierung an. So lässt sich auch die moderne Mode definieren, als Ausdruck von Kreativität, persönlichem Geschmack und kultureller Identität.
Durch die neue Vielfalt der Bekleidung und der Ressourcen konnte dem Wunsch, vielleicht sogar dem Drang, nachgegangen werden, sich nach eigenen ästhetischen Vorstellungen zu kleiden. Mode wurde zu einem Spiel mit Stilen, Trends und Innovationen, das den Menschen erlaubte, sich ständig neu zu erfinden und entfalten. Die Kleidung wurde opulenter, und Menschen konnten mit Stoffen frei gestalten, von einfachen bis komplexen Wickel- und Falttechniken bis hin zur Schnittkonstruktion, bei der die Kleidung an den Körper angepasst
wurde. Auch Textilien wurden immer aufwendiger gestaltet, verziert und veredelt.
Mit Kleidung und damit auch mit den Textilien war es nun möglich, Körper nach eigenen Vorlieben zu schmücken und dadurch Individualität auszudrücken. Sich anzukleiden wurde zu einer kreativen Auseinandersetzung mit dem eigenen Charakter und den Gefühlen. Kleidung wird nicht einfach nur getragen, sondern gestylt. Ab diesem Punkt sind Accessoires und Schmuck fast gar nicht mehr von dem Akt des Kleidens wegzudenken.
Der Einsatz von Schmuck und Accessoires verstärkt den Selbstausdruck, sie ergänzen und personalisieren die Kleidung. Ihre einzige Aufgabe ist–laut Graham Hughes–schön zu sein und Träger:innen gut aussehen zu lassen. “But for jewels, appearance is function; to look beautiful, and so to flatter their wearer, is their only purpose. Jewelry, like painting, sculpture and music, has what Roger Fry called a glorious inutility.” 1) Schmuck wird selten alleine getragen; er ergibt zusammen mit der Kleidung ein Gesamtbild, eine Gesamtstimmung, einen Gesamtausdruck. Dadurch erhält er die wichtige Rolle, die Kleidung zu personalisieren. So haben auch Textilien die Funktion, Kleidung zu schmücken, indem sie mithilfe des von Schnittkonstruktion ein Gesamtwerk erschaffen. Durch den Schnitt und die Weiterverarbeitung wird aus einem Textil ein fertiges Produkt. Aber Textil ist nicht nur Mittel zum Zweck, es ist notwendig, um Formen erschaffen zu können. Ohne Textilien gibt es keine Kleidung. Es dient also quasi neben dem Schmücken des Körpers auch schmückend für die die Silhouette, in die es sich formt. Es unterstützt nicht nur, sondern ist Voraussetzung für die Erschaffung von Kleidung. „Durch seine Materialbeschaffenheit wie auch durch seine vielseitige Oberflächengestaltung (Farben und Muster) kommt dem Textilen kulturgeschichtlich und ikonografisch eine große Bedeutung zu. In der Archäologie jedoch wurde und wird dem Textilen ein–oftmals–zu geringer Stellenwert eingeräumt.“ 2) Kann man ein
Kleidungsstück ohne Textil überhaupt sehen? Existiert es überhaupt? Wieso ist die Relevanz des Textils der Kleidung untergeordnet? Vielleicht, weil es als ein Halbzeug gesehen wird, das erst zur endgültigen Form gebracht wird? Es ist sinnvoll, das Textil und Kleidungsstücke schon zu Beginn des Designprozesses gemeinsam zu betrachten, sie als Einheit zu planen und zu entwickeln. So können Produktionsketten verkürzt und Hierarchien in den beiden Industrien, Textilproduktion und Mode, gebrochen werden, indem man sie gleichwertig betrachtet. In diesem integrativen Ansatz unterstützt das Textil den Schnitt und umgekehrt, was nicht nur zu einer effizienteren Produktion führen kann, sondern auch weniger Abfall verursacht. Techniken wie Stricken, Sticken, 3D-Druck und Weben bieten Möglichkeiten, bei denen der Schnitt und das Textil gleichzeitig entstehen können. Hierbei wird die Oberflächengestaltung nicht nur für Musterung genutzt, sondern als potenzielle Formgebung betrachtet. „Die Mode als ‚Erzählung‘ steht für Barthes damit vor dem Objekt. Somit ist es Sprache, in der sich Mode konstituiert, die das Bedürfnis nach Konsum weckt und das ‚kollektive Imaginäre‘ bestimmt.“ 3) Diese Kommunikationsprozesse, die sich sowohl auf Textilien als auch auf die Schnitte und die menschlichen Körper beziehen, zeigen, dass Kleidung eine vielschichtige Sprache der Selbstdarstellung ist. Mode basiert auf Kommunikation. Paul Watzlawick erkannte dies in seiner Aussage: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Jeder Aspekt der Mode, sei es das Material, die Form oder der Kontext, in dem sie getragen wird, spricht eine eigene Sprache, bestimmt die Art und Weise, wie wir wahrgenommen werden und uns selbst wahrnehmen und trägt zur Kommunikation bei. Textilien und Kleidung stehen also im ständigen Dialog, sei es miteinander, mit den Betrachter:innen, oder mit den Träger:innen.

1) Graham Hughes, Modern Jewelry/an international survey
2)Ingrid Loschek zitiert Heide Nixdorff in Wann ist Mode? S.24
3) Ingrid Loschek zitiert Roland Barthes in Wann ist Mode? S.23

Quellen:
Wann ist Mode? Strukturen, Strategien und Innovation–Ingrid Loschek
(Reimer Kulturwissenschaften)
Weltgeschichte der Bekleidung: Geschichte, Traditionen, Kulturen– Patricia Rieff Anawalt (Haupt
Verlag)

 

Foto credit: Moritz Geyer