"Wie viele Nebenstränge hat die Geschichte!"

"Wie viele Nebenstränge hat die Geschichte!" ist das Masterprojekt von Vinzenz Damm, in dem er als kuratorische Assistenz für die Ausstellung „Tuntenhaus Forellenhof 1990 – der kurze Sommer des schwulen Kommunismus“ tätig war. Die Ausstellung wurde vom 1. Juli 2022 bis 13. Februar 2023 im Schwulen Museum Berlin gezeigt.

Hoffest im Tuntenhaus Forellenhof, Foto: Michael Österreich

Am 14.11.1990 wurde die Mainzer Straße zum Schauplatz der ersten großen Niederlage der zweiten Welle der Besetzer*innen-Bewegung des wiedervereinigten Berlins. Der Tag endete mit der Räumung von 12 besetzten Häusern, die in der Mainzer für drei Tage gegen die einmarschierende westdeutsche Polizei verteidigt wurden. An den errichteten Barrikaden schaufelten Besetzer*innen, Nachbar*innen, Autonome, Jugendliche, Lesben und schwule Tunten mit. Letztere bewohnten eines der umkämpften Häuser, das sogenannte Tuntenhaus.

Die Ausstellung „Tuntenhaus Forellenhof 1990 – der kurze Sommer des schwulen Kommunismus“, die von einem ehemaligen Bewohner des Tuntenhauses kuratiert wurde und an der ich als kuratorische Assistenz beteiligt war, nahm sich zum Anspruch, die Erzählung der Besetzungen in der Mainzer Straße auch unter der queeren Perspektive in Augenschein zu nehmen. Gleichfalls sollte die Verschränkung von links autonomem Aktivismus und der Schwulen Szene, die sich aus West-Berlin aufmachte, den Leerstand Ost-Berlins instand zu besetzen, deutlich gemacht werden. Denn die Besetzer*innen-Bewegung war nicht nur eine Hasskappen tragende Bande von Mackern. Das Tuntenhaus war ein integraler Bestandteil der linksautonomen Szene in Friedrichshain, gerade weil es die Bewohner*innen vermochten, ihr Tunten-Draging im Kampf um die Straße, die Deutungshoheit von Geschlecht und linker Identität mit in den Ring zu werfen. Durch ihr auffälliges Auftreten wirkten sie an der öffentlichen Wahrnehmung der Besetzer*innenbewegung von 1990 entscheidend mit. Die Strategie, sich im Fummel zu exponieren und die Open Door Politik ihres Hauses erwies sich spätestens für die Recherche zur Ausstellung als vorteilhaft hinsichtlich der Möglichkeit, dass sich ein Erinnern auf eine Vielzahl an Fotografien, gemeinsam verfasste Texte, Kostüme und audiovisuelles Material stützen konnte. Andere Gruppierungen der Besetzer*innen-Bewegung, wie bspw. das Lesben- und Frauenhaus in direkter Nachbarschaft mit seiner Closed Door Politik, wurden durch die ungleiche Sichtbarkeit aus dem materialen Gedächtnis getilgt. Das systematische Ausblenden anderer Lebensrealitäten, wie die daraus resultierenden klandestinen Marginalisierungen innerhalb der linken Besetzer*innen-Bewegungen, verstärken derlei Tendenzen und haben reale Auswirkungen darauf, wie wir erinnern und wen wir erinnern.

Handelte es sich bei dem Ausstellungsprojekt um eine Musealisierung subversiver Stadtgeschichte unter einem offenen  queerfeministischen Ansatz wie ihn das Schwule Museum vertritt oder handelt es sich eher um ein Szeneprojekt, das den Anspruch verfolgte, der eigenen Geschichte ein museales Vermächtnis zu setzen? Wurde und wird auch bei diesem Nebenstrang der Geschichte selbige von den Gewinnern (sic!) geschrieben? Wie lässt sich Sichtbarkeit für bislang unerzählte Geschichten herstellen?

Während ich im Produktionsprozess von der Ausstellung vor allem für die Kommunikation mit den leihgebenden Institutionen und Privatpersonen sowie für die Besorgung und Organisation der Leihgaben und im Besonderen für die Videoarbeiten verantwortlich zeichnete, befasste ich mich in der nachfolgenden kritischen Rezeption zur Ausstellung mit eben diesen Fragen. Dabei fand ich Mitstreiter*innen, die ebenfalls im Produktionsprozess beteiligt waren, mit ihren Beiträgen aber aus der finalen Ausstellung ausgeschlossenen worden waren. Unsere Ausgangsthese war, dass sich in der Ausstellung eine Marginalisierung reproduzierte, die die Dominanz des männlichen Blickwinkels fortschreibt und kaum eine selbstkritische Perspektive eröffnete.

In einem noch unabgeschlossenen Projekt mit dem Arbeitstitel „Deleted Scenes“ verfolgen wir ausgehend von der Ausstellung die Idee, die gemeinhin als weiblich konnotierten Gemeinschaftsformen zu erforschen, die es in der Berliner Besetzungsbewegung 1990 möglich machten, Wohnräume mit Anspruch nach polyamoren Lebensstrukturen zu gestalten, anstatt sich auf heroische Narrative zu fokussieren. Wir brauchen keine weiteren Heldengeschichten. Vielmehr sollten die alternativen Lebensmodelle abseits der Kernfamilie, die solidarischen und Sorge tragenden Konstellationen zwischenmenschlicher Interaktion Beachtung finden, da sie interessante Fragestellungen für das Begreifen von Geschichte offenlegen.

Kuratorische Assistenz zu einer Ausstellung im Schwulen Museum, Berlin

Masterprojekt, Wintersemester 2022/23

Betreut von Prof. Dr. Stephan Gregory

Kuratorische Assistenz zu einer Ausstellung im Schwulen Museum, Berlin

Masterprojekt, Wintersemester 2022/23

Betreut von Prof. Dr. Stephan Gregory