Rainer Schönhammer Fliegen, Fallen, Flüchten. Psychologie intensiver Träume. Tübingen: dgvt-Verlag, 2004 |
|||
Einleitung | zum Inhaltsverszeichnis zum Register | ||
Warum können Menschen im Traum fliegen? Ich hakte vor Jahren
bei dieser Frage ein, nachdem ich am Rande der Untersuchung des
Wahrnehmens in realen Flug- und Fahrsituationen auf das Träumen
von Bewegung gestoßen war. Ich ahnte, dass dieser Frage mit
psychodynamischer Auslegung des geträumten Abhebens als Metapher
für diese oder jene individuelle Eigenschaft oder Bestrebung
nicht beizukommen wäre. Für ein Sinnbild schien mir das mentale
Fliegen nach eigener Erinnerung und nach ein paar in der Literatur
gefundenen Berichten allzu sinnlich. Um diesen Verdacht zu erhärten, bemühte ich mich um ein runderes Bild von diesen Träumen, erkundigte mich bei Freunden und Bekannten, führte auch formellere Interviews durch und spannte Studenten und Kollegen ein ins Traum-Botanisieren. Und ich sah zu, was schon an Erklärungen jenseits tiefenpsychologischer Interpretationen vorlag. Eine Fährte führte zurück ins 19. Jahrhundert, zu den "Leibreiztheorien" des Träumens, die Freud in seinem Traumbuch an der Wende zum 20. Jahrhundert so geschickt in den Schatten der eigenen Theorie, Träume seien sämtlich Ausdruck unbewusster Wünsche, zu stellen gewusst hatte, dass sie fortan als erledigt galten. In den Abhandlungen der Physiologen, Philosophen und Psychologen des 19. Jahrhunderts, die in den Bibliotheken Staub ansetzen, fand ich nicht nur liebevoll genaue Beschreibungen von Träumen und den jeweiligen Umständen des Träumens, sondern auch Analysen und Spekulationen, die verblüffend zu Erkenntnissen passen, zu denen mich eine zweite Fährte, die Entwicklung der modernen Traumforschung in Nordamerika seit den 1950er Jahren, führte. Die Einsichten der älteren Traumforschung sind dabei über den Blickwinkel der Wissenschaftsgeschichte hinaus interessant, sind mehr als nur "Vorläufer" der ausgereiften Wissenschaft. Die genauen Beschreibungen der Gelehrten beleuchten teils Aspekte, die in der gegenwärtigen Forschung eher ausgeblendet werden. Es ist eine Ironie der Wissenschaftsgeschichte, dass Freud wegen der Übersetzung seiner Werke ins Englische für die moderne wahrnehmungspsychologisch und neurowissenschaftlich orientierte Traumforschung, die im Wesentlichen außerhalb des deutschen Sprachraumes abläuft, auch zum Gewährsmann für eben jene Werke wurde, von denen er aus rhetorischen Gründen verzerrende Karikaturen gezeichnet hatte. So ist etwa der heute in Montreal forschende norwegische Psychologe Tore Nielsen, der seit den 1980er Jahren auf der Spur einer modernen Leibreizpsychologie des Traumes ist, ausgerechnet auf Freuds Bemerkungen über den monumentalen Forschungsbericht des Norwegers Mourly Vold angewiesen, da der auf Deutsch geschriebene Teil von dessen Notizen 1910 und 1912 posthum von dem Leipziger Psychologen Otto Klemm unter dem Titel "Über den Traum" herausgegeben und nie übersetzt wurde. Im Vorwort zum zweiten Band gab Klemm mit richtigem Gespür für den Zeitgeist einer Hoffnung Ausdruck, die sich nicht erfüllen sollte. "Besonders in unserem Zeitalter, der Traumanalyse", schrieb Klemm, "wo namentlich bei vielen, die im Fahrwasser der Freudschen Psychoanalyse segeln, sich Hypothesen und Beobachtungen oft ununterscheidbar mischen, werden die Untersuchungen Mourly Volds mit ihrer schlichten Mitteilung des empirischen Materials und ihren vorsichtig abgewogenen Interpretationsversuchen sich dauernd ihre Stellung behaupten." Der Lauf, den die Geschichte der Traumforschung nahm, verwandelte Vold (wegen einer Überlegung, die er im Zusammenhang von Flugträumen anstellte) zum Kronzeugen für die Freudsche Theorie. Gleichzeitig verspottete der Gründer der Psychoanalyse Volds akribisches Forschen, ohne Beispiele von dessen aufschlussreichen Beschreibungen zu überliefern. Freud hielt, was den Flugtraum angeht, zwar immer die Wunscherfüllung als übergeordnetes Beweisziel fest, veränderte indes die Argumentation im Laufe der Zeit. Wenn man genau hinschaut, sind die Varianten, das Fliegen zum Beleg der prinzipiellen Traumfunktion "Wunscherfüllung" zu stempeln, die in späteren Aussagen seines epochalen Buches ein wenig verirrt und verwirrend nebeneinander stehen, der geschmähten Leibreiztheorie verhaftet. Freuds ursprüngliche Lesart des Fliegens etwa nahm schwindelerregendes kindliches Herumtollen ("Hetzen") für die Erklärung der Flugträume in Anspruch. Im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts entwickelte sich dann unter Beteiligung von strikten Gefolgsleuten der Psychoanalyse sowie klinisch und experimentell arbeitenden Psychiatern und Neurologen, die der Psychoanalyse mehr oder minder nahe standen, eine Traumforschung, die um den Leibreiz Gleichgewichtssinn kreiste. Was die Wiener Neurologen und Psychiater über die Rolle von Schwindel bei Flugträumen in Erfahrung gebracht hatten, erwies sich für mich neben den Arbeiten der Physiologen, Philosophen und Psychologen des 19. Jahrhunderts und der modernen Traumforschung als weitere heiße Spur. Auch dieses Puzzlestück passte überraschend zu Erkenntnissen, die in den vergangenen Jahrzehnten gewonnen worden waren. Genauer gesagt: zu einigen Argumentationslinien in der zeitgenössischen Wissenschaft vom Traum. Die nämlich ist alles andere als eine ruhig vor sich hin arbeitende Forschungsmaschine. Kognitionspsychologen und Neurowissenschaftler ziehen teils an gegensätzlichen Strängen und auf beiden Seiten sehen auch Tiefenpsychologen Chancen für die eigene Sache. Gerade um die Jahrtausendwende brandete eine Debatte um die Rolle der Schlafphase mit den schnellen Augenbewegungen auf. Schwung war in diese schon seit den 1980er Jahren laufende Kontroverse gekommen, weil ein britischer Neurologe und Psychoanalytiker, Mark Solms, wie es aussah, durch seine Studien bei Hirnerkrankten den Knoten des Für und Wider durchschlagen hatte. Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, warum wir im Traum fliegen können, berührt einige zentrale Aspekte der jüngsten Entwicklung der Kognitions- und Neurowissenschaft vom Traum, einschließlich der angedeuteten Kontroverse. Mir war relativ bald klar, dass sich diese Antwort um die Konstellation von Bewusstsein und Körper, die der Schlaf mit sich bringt, drehen würde. Und ich erwartete, nebenbei vielleicht zu begreifen, warum man im Schlaf auch fällt. Nicht geahnt hatte ich, dass sich auf diesem Weg die Erklärung einer viel umfassenderen Klasse von Träumen aufdrängen würde: Die universellen Träume, von den Psychologen "typische Träume" genannt, lassen sich, wie mir scheint, in der Perspektive einer modernisierten Leib- und Nervenreiztheorie überraschend auf den Punkt bringen. Nicht zuletzt gilt das für jenen Traum, für den das Definitionskriterium der Universalität – fast jeder kennt ihn – wohl am besten erfüllt ist: für den Traum, verfolgt zu werden. Wohlgemerkt: Die Erklärung jener Gattung von Träumen, die (in je individueller und kulturtypischer Färbung) in aller Welt geträumt werden, ist keine erschöpfende Theorie des Träumens. Sogar die Mehrzahl unserer alltäglichen Träume entgeht der in diesem Buch anvisierten Traumformel. Das Buch handelt von jenen Träumen, die aus dem nächtlichen Einerlei herausragen. Insofern das Körperbewusstsein im Schlaf den Angelpunkt dieses Buches bildet, handelt es auch von der Rolle der Wahrnehmung des Körpers für das wache Bewusstsein und Selbstgefühl. Dass das Selbst nicht zuletzt im Spüren des eigenen Leibes gründet, ist kein ganz neuer Gedanke, wenn er auch erst im vergangenen Jahrzehnt im Rahmen der neurowissenschaftlich angeregten Theorien des Bewusstseins wieder verstärkt in den Blick kam. In diesem Kontext hatte beispielsweise im deutschen Sprachraum der Philosoph Thomas Metzinger (z.B. 1997) die psychologische Forschung etwa zu außerkörperlichen Erlebnissen aufgegriffen. Über den Vergleich mit der Körperwahrnehmung im Wachen kommen auch mediale Darstellungen der Schwerelosigkeit – von den Engeln und Heiligen in der Malerei bis zum Imax-Kino und virtueller Realität – sowie reale Bewegungssituationen (etwa im Zug oder Automobil) ins Spiel. Wenn man versteht, warum Menschen im Traum fliegen können, versteht man auch manchen Aspekt wacher Wahrnehmung besser. Damit ist in groben Zügen umschrieben, worum es geht. Bleibt etwas zu sagen zu der Art von Text, auf die der Leser sich einstellen kann, und zum Fortgang. Dieses Buch ist ein Versuch über universelle Träume, der seinen Ausgang bei dem rätselhaften Traumerlebnis des Fliegens nimmt. Ich bemühe mich, das, was ich auf Basis meines (und meiner Helfer) 'Sammelns und Jagens' in Bibliotheken und am lebenden Objekt glaube verstanden zu haben, nachvollziehbar zu machen. Wenn das gelungen ist, was mir vor Augen stand, handelt es sich um allgemeinverständliche Wissenschaft. Im Mittelpunkt steht die Perspektive, dass sich intensive Träume als Produkt einer herausgehobenen Wahrnehmungssituation verstehen lassen, dass sie Assoziationen zu faszinierenden oder erschreckenden Wahrnehmungen, also in gewissem Sinne schon im Moment ihrer Entstehung ein ästhetisches Phänomen sind. Der Text belegt, wie nahe andere meiner "Wahrheit" nicht erst seit neuestem immer wieder gekommen sind. Ich bin mir indes allzu bewusst, dass meine Darstellung anderen mehr schuldet, als ich es zum Ausdruck bringen kann, ohne das Buch zu einer unlesbaren Ansammlung von Verbeugungen (und Seitenhieben) zu machen. Bei allem Bemühen um flüssige Lesbarkeit ließen sich ein paar etwas verzwicktere Passagen nicht ganz vermeiden. Zum essayistisch wissenschaftlichen Anspruch gehört auch ein Literaturverzeichnis, das dem Leser alle wichtigen Anknüpfungspunkte nennt. Ich halte mich dabei im Prinzip an das "Harvard-Verfahren" (Klammer mit Autor(en), Erscheinungsjahr und bei wörtlichen Zitaten auch Seitenangabe), habe der Lesbarkeit halber indes den Klammerinhalt weitgehend in den Text integriert. Die Ergebnisse unserer Befragungen (einschließlich der versuchsweise angeregten Tagträume vom Fliegen, die durch einen Vergleich helfen sollten, das Spezifische an Flugträumen herauszupräparieren) lasse ich in den Text einfließen, ohne sie im Stil eines Forschungsberichtes zu diskutieren; sie sind ein Mosaikstein der bodennahen Spekulation und Anregung für weitere Studien. Der erste Teil des Buches kreist den Flugtraum ein. Das kurze erste Kapitel, "... wirklich nur ein Traum?", charakterisiert einen wesentlichen Aspekt der Intensität von Flugträumen und nennt facts & figures zu Verbreitung und Frequenz. Im zweiten Kapitel, Flugtraumdeutung – Schwerkraft und Moral, kommen Psychoanalytiker unterschiedlicher Schulrichtung, antike Traumdeuter und auch Esoteriker zu Wort. Flugorgane – Von den 'Leibreiztheorien' zur Neurowissenschaft, Kapitel drei, liefert mit der Geschichte der Theorie des Flugtraumes in den vergangenen 150 Jahren Perspektiven für die im vierten Kapitel, Phantasiefliegen und Flugträume, anschließende mikroskopische Analyse von Erscheinungsformen des Traumfliegens. Das fünfte Kapitel, Kein Traum: Levitationen, beleuchtet die Schwereempfindung betreffenden Trugwahrnehmungen in veränderten Bewusstseinszuständen und schlägt natürlich eine Brücke von diesen Halluzinationen zum Träumen. Schwindel im Schlaf – Schwindel im Traum, das sechste Kapitel, berichtet unter anderem, was passiert, wenn Mensch und Tier im Schlaflabor geschaukelt werden. Der zweite Teil des Buches spannt den Bogen vom Flugtraum zu den anderen universellen Träumen. Kapitel sieben, Aus dem Schlaf fallen, erklärt, warum das so herum geschieht (und nicht umgekehrt). Das achte Kapitel macht Gespenster dingfest. Berauschende Halbträume nennt das neunte Kapitel jenen oft mit Fliegen aber auch mit Alpträumen verbundenen Zustand, in dem man merkt, dass man träumt. Im zehnten Kapitel schließlich passieren "Typische Träume" über Fliegen, Fallen und Verfolgung hinaus Revue. |
|||