Jede Kunst hat formale, politische und soziale Aspekte, aber auch eine spirituelle Komponente. Spiritualität wird jedoch zunehmend als Thema in der zeitgenössischen Kunst gesehen, vielleicht weil die Gesellschaft ihre spirituelle Verbindung verloren hat, die sie nun in der Kunst zu finden versucht. Kunst kann traditionelles Wissen in der Gegenwart aktualisieren und neue Rahmen für innere existenzielle Erfahrungen aufzeigen. Religiöse Rituale sind jedoch ein geschlossenes System, während die Kunst das Gegenteil sein sollte: ein freies System, in dem die Bedeutungen aus der Rezeption der Werke konstruiert werden.

Wie geht die Kunst mit dem Thema Spiritualität in der Gegenwart um? Wir werden im Seminar mit einer kritischen Analyse der Ausstellung "Le Magiciens de la terre" von 1989 in Paris beginnen. Diese war eine der ersten groß angelegten Initiativen, bei der kulturelle Praktiken, die nicht aus dem Westen stammen, im westlichen Kunstsystem gezeigt wurden. Das Kunstsystem kann kommerziell oder intellektuell neue Bereiche, die zuvor unerreichbar waren, kolonisieren. Wie wird das künstlerische Erschaffen, das mit Spiritualität verbunden ist, heute im Kunstsystem dargestellt? Um diese Frage zu beantworten, sehen wir uns Beispiele an wie Ernesto Netos Beitrag zur Venedig Biennale 2017: Er baute eine Installationshütte und lud einige Vertreter der Huin Kuin-Gemeinschaft, Ureinwohner Südamerikas, ein, um innerhalb der Ausstellung Rituale durchzuführen. Auch die Zirkulation der Kunstwerke von Ayrson Heráclito, Jelili Atiku, Tiona Nekkia McClodden u.a. werden wir betrachten.

Die Künstler*innen können dazu beitragen, die Auswirkungen des Kolonialismus, wie Rassismus, Sexismus, Umweltzerstörung und Epistemizid, zu „heilen“. Der Begriff Epistemizid bezieht sich auf die Inferiorisierung von Völkern, die Auslöschung lokaler Kulturen und die Delegitimierung von Wissen. Die afrikanische und indigene Spiritualität leidet bis heute unter gewalttätiger Intoleranz, seit diese Völker zwangsweise zum Christentum bekehrt wurden. Im Seminar werden wir den Epistemizid in Bezug auf nicht-hegemoniale Spiritualitäten diskutieren und wie diese von Künstler*innen in der Kunstszene heute dargestellt werden. Wir lassen uns unter anderem vom dekolonialen Licht der Worte von Gloria Anzaldúa oder dem indigenen Ailton Krenak leiten.

Empfohlene Literatur:

  • BUCK-MORSS, Susan: Hegel and Haiti. In: Critical Inquiry, Vol. 26, n.4, 2000. Pg. 821 – 865.

  • ANZALDÚA, Gloria. Flights of the Imagination, Rereading/Rewriting Realities. In: Light in the Dark / Luz En Lo Oscuro: Rewriting Identity, Spirituality, Reality. Edited by AnaLouise Keating, 23-46. Durham, North Carolina: Duke University Press Books, 2015.

  • DIEDERICHSEN, Diedrich und FRANKE; Anselm. (Eds.) Liebe und Ethnologie, die koloniale Dialektik der Empfindlichkeit (nach Hubert Fichte), Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Sternberg Press, 2019.

  • SILVA, Denise Ferreira da: Unpayable Debt: Reading Scenes of Value against the Arrow of Time. In: Documenta 14 Reader, Hg.: Quinn Latimer and Adam Szymczyk, München: Prestel 2017.

  • KRENAK, Ailton: Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen, btb, München 2021. Übersetzer aus dem brasilianischen Portugiesisch: Michael Kegler.

  • LAFUENTE, Pablo: From the oustide in two histories of exhibition. In: Making Art Global (Part 2), Magiciens de la terre, 1989, Exhibition Histories. Afterall Journal, Wien u.a. 2014.

  • LATOUR, Bruno. On the modern cult of the Factish Gods. Chapter 1: On the cult of the Factish Gods. Duke University Press, 2010.

  • VELASCO, David: 1000 words: Tiona Nekkia McClodden. Tiona Nekkia McClodden talks about I prayed to the wrong god for you. In: Artforum, Vol. 57, n. 9, May 2019. Accessible at: https://www.artforum.com/print/201905/tiona-nekkia-mcclodden-talks-about-i-prayed-to-the-wrong-god-for-you-79525

 

Name des/der Lehrenden / Name of Teacher

Dr. Ana Hupe

Veranstaltungsart und -methodik / Teaching and working methods

Seminar

Verwendbarkeit / Applicability
Kunstgeschichte (Diplom); Kunstgeschichte I oder II (Lehramt); MA Kunstwissenschaften: Modul 2 (Theorien und Diskurse)

Lernziele, Qualifikationsziele / Objectives,  Learning Outcome

  • Einblick in die historische Entwicklung kunsthistorischer Fragestellungen

  • Erarbeitung theoretischer und diskursiver Zugänge zu historischem Wissen

  • Reflexion eines kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Diskursfeldes

  • Verständnis für disziplinäre und transdisziplinäre Theorien

  • Entwicklung eigener Forschungsansätze auf der Basis der Vernetzung, Reflexion und Pointierung des Themenspektrums

Beurteilung / Assessment

Teilnahme (T), Hausarbeit (H), mündliche Prüfung nur für Lehramt, Kunstgeschichte II

Zugangsvoraussetzung / Prerequisites

keine

Umfang in SWS / Semester periods per week

2