Im 20. Jahrhundert wurden der Kunstbegriff und damit auch das Spektrum der Materialien erweitert. Von Dada bis Land Art, von der Collage bis zum Environment werden Relikte der Konsumgesellschaft recycelt und das Verhältnis von Natur und Kultur kritisch betrachtet. Die Gegenstände unserer Umwelt werden in ihrer Einwirkung auf uns neu bewertet und umgekehrt der menschliche Einfluss auf die Formung der Erde und aller auf ihr angesiedelten Lebenswelten als Realität erkannt und untersucht. Seit Ende der 1960er Jahre erfuhr diese Erweiterung, vorangetrieben von der Ökologiebewegung und einer Opposition zu den „Wirtschaftswundern“, eine Ausdifferenzierung. In den Kulturwissenschaften wird seit den 1980er Jahren von einem „material turn“ gesprochen (Anthony Giddens, Pierre Bourdieu, Ian Hodder, Bruno Latour).
Der Paradigmenwechsel „verweist auf den Umstand, dass Wissenschaft nicht nur einer Welt gegenüber steht, die sie beobachtet, erforscht, durchdringt, sondern dass die Welt durch wissenschaftliche Praxis hervorgebracht wird.“ (Bräunlein 2012, S. 41)
Der „New Materialism“ (Donna Haraway, Karen Barrad, Jane Bennett, Rosi Braidotti u.a.) bestimmt nun schon seit einigen Jahren die Debatten und steht auch im Fokus der Kunst des 21. Jahrhunderts, was sich in zahlreichen Ausstellungen niederschlägt. Hier werden Ansätze der Kulturtheorie, Wissenschaftstheorie, Philosophie, Soziologie, Kunstwissenschaften, des Feminismus und unterschiedlicher künstlerischer Praktiken miteinander verschränkt. Dem menschlichen Subjekt wird seine egozentrische Stellung aberkannt. Zugleich aber wird ihm im Sinne des Zeitalters des Anthropozäns (Paul Crutzen) die Rolle einer verursachenden Dynamik der Veränderung der Erdoberfläche und Beeinflussung des Klimas, also einer „geologischen“ Kraft zugewiesen. Dem wiederum setzt Donna Haraway das Konzept des Capitalocene, welches das kapitalistische System als maßgebliche Triebkraft ansieht, entgegen.
Im Seminar werden wir versuchen, Hauptstränge aus diesem komplexen Konglomerat miteinander zu diskutieren. Wir werden uns mit dem Materialdiskurs in der Kunstgeschichte und den für die zeitgenössische Kunst anregenden Ansätzen des „New Materialism" befassen. „Thing power“, hybride Objekte, Intra-Aktion, die Handlungsmacht von Materie und Dingen, der Umgang mit Ressourcen sind Schlagworte für unsere Beschäftigung. Wir werden die Werke von Künstler*innen wie Lygia Clark, Camille Henrot, Pierre Huyghe, Pakui Hardware, Rachel Rose, Hito Steyrl u.a. betrachten.
Einführende Literatur:
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Barad, Karen: Verschränkungen. Berlin 2015.
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Bennett, Jane: Lebhafte Materie. Berlin 2010.
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Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus. Hg.: Tobias Goll, Daniel Keil, Thomas Telios, Münster 2014.
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Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main 1995.
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Dies.: Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt am Main 2018.
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Hoppe, Katharina; Lemke, Thomas: Neue Materialismen zur Einführung. Hamburg 2021.
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Horn, Eva; Bergthaller, Hannes: Anthropozän zur Einführung. Hamburg 2019.
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Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Frankfurt am Main 2008.
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New Materialism: Interviews & Cartographies. Hg. Rick Dolphijn, Iris van der Tuin. Michigan 2012.
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Speculations on anonymous materials, nature after nature, inhuman. Hg.: Susanne Pfeffer, London 2018.
Name des/der Lehrenden / Name of Teacher
Prof. Dr. Nike Bätzner, Charlotte Silbermann
Veranstaltungsart und -methodik / Teaching and working methods
Seminar
Verwendbarkeit / Applicability
Kunstgeschichte (Diplom); Kunstgeschichte I oder II (Lehramt); MA Kunstwissenschaften: Modul 1 (Methoden), Modul 2 (Theorien und Diskurse)
Lernziele, Qualifikationsziele / Objectives, Learning Outcome
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fundiertes und vertieftes Verständnis von wissenschaftlichen Methoden der Kunst- und Kulturwissenschaften
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Verständnis für disziplinäre und transdisziplinäre Theorien
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Erweiterung des eigenen methodischen Spektrums
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Einblick in die historische Entwicklung von Analysemodellen und kunsthistorischer Fragestellungen
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Reflexion eines kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Diskursfeldes
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Entwicklung eigener Forschungsansätze auf der Basis der Vernetzung, Reflexion und Pointierung des Themenspektrums
Beurteilung / Assessment
Teilnahme (T), Hausarbeit (H), mündliche Prüfung nur für Lehramt, Kunstgeschichte II
Zugangsvoraussetzung / Prerequisites
keine
Umfang in SWS / Semester periods per week
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