Im August 2020 hat der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates das “Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen” beschlossen: Im Zuge des Ausstiegs aus dem Braunkohleabbau und der Verstromung von Braunkohle sollen bis 2038 Finanzhilfen in das Wirtschaftswachstum unter anderem des Mitteldeutschen Reviers Sachsen-Anhalt fließen, die nach einem ökonomischen, ökologischen und sozialen Verständnis eine nachhaltige Entwicklung der Region fördern sollen.
Die Studienschwerpunkte Fotografie und Informationsdesign nehmen diesen Beschluss gemeinsam zum Anlass, sich mit den Folgen von Extraktivismus, Klima- und Strukturwandel für die Landschaft und die Bewohner*innen der Region zu beschäftigen. Der Titel ist eine Herausforderung, dabei in zwei Richtungen zu denken. Nach den Regeln der Normalität: Sich an die Regeln halten und diese Normalität erzeugen. Oder: Was wird Normalität sein, wenn die Regeln, die die bisherige Normalität bestimmten nicht mehr gelten?
Das Projekt ist eine Zusammenarbeit der Studienschwerpunkte Fotografie und Informationsdesign in Kooperation mit der Stabsstelle Strukturwandel der Staatskanzlei Sachsen-Anhalt. Es beginnt in der Einführungswoche mit einer Wanderung durch das Mansfelder Land und Gesprächen mit Gästen aus den Bereichen Sozialarbeit, Politik, Wirtschaft, Klimaforschung, Literatur, Kunst und Design. In regelmäßigen Treffen beider Schwerpunkte werden die entstehenden Projekte und Arbeiten innerhalb der Gruppe reflektiert und mit den real-weltlichen Erfahrungen in der Region abgeglichen. Wir sind offen für Interventionen und möchten im Rahmen logistischer Möglichkeiten verschiedene Modelle der Präsentation vor Ort entwickeln. Im Anschluß an das Semesterprojekt wird zusammen mit den Studierenden eine Publikation erarbeitet, die Recherche, Gespräche und entstandene Arbeiten reflektiert. Zur Einführung wird ein Reader zur Verfügung gestellt.
Über wessen Normalität sprechen wir? Und wie kommt diese Normalität zustande?
Im Studienschwerpunkt Informationsdesign stellen wir uns die Frage nach den Machtbeziehungen die den Strukturwandel begleiten und einrahmen. Wir gehen davon aus, dass nicht die eine Normalität besteht sondern eine parallele und konkurierende Entwicklung verschiedener Normalisierungsversuche. Wie kontrastieren sich die erhoffte Normalität der Menschen vor Ort mit den projezierten Normalitäten von Ämtern, Behörden und Wissenschaft? Alle Akteure nutzen Bilder um ihren Anliegen eine Stimme zu verleihen. Welche Bilder werden unterlassen? Wer wird nicht gehört? Welche Perspektiven, Vorstellungen, Prognosen und Daten werden bei der Entwicklung zukünftiger Normalität zu Rate gezogen und welche nicht?
Uns interessiert, wen wir konkret mit unserer Expertise und unseren Werkzeugen unterstützen können. Mit wem gestalten wir? Wir arbeiten im Sommersemester wieder gemeinsam mit lokalen Netzwerken von Aktivist*innen, bspw. Ende Gelände, De-Growth, Umweltaktivist*innen, Dorfinitiativen und untersuchen welches lokale Wissen vor Ort und über die Region hinaus relevant ist. In Treffen, Gesprächen und Austausch versuchen wir Formen von Gemeinschaft, Gemeinwohl-Ökonomie und lokaler Organisationsstruktur zu verstehen, zu unterstützen und hierfür Bilder zu entwickeln. Darauf aufbauend entwickeln wir mögliche produktive Beiträge für bestehende Formen von Bürgerbeteiligungen und anderen partizipativen Planungsformaten in der Region.
Als weitere Maßstabsebene interessiert uns der Bezug zwischen lokaler Realität und deren Einbindung in globale Transformationsprozesse hinsichtlich ökologischer, politischer, sozialer und ökonomischer Fragen und Abhängigkeiten. Entscheidungen auf nationaler und internationaler Ebene schlagen sich in der Region nieder, wohingegen in der Region Formen von Zukunft bereits gelebt und getestet werden, die das Potenzial haben, globalen Entwicklungen gegenübergestellt zu werden.
Dem allen liegt ein Verständnis von Design als interdisziplinäre Tätigkeit zugrunde, die ihren eigenen Beitrag aus der engen Auseinandersetzung und der Zusammenarbeit mit Anderen entwickelt und Kommunikationsdesign als Praxis versteht, die nicht im Beschreiben verhaftet bleibt sondern sich positioniert, vorschlägt, entwirft und produktiv beiträgt.
Arbeitsweise
– In der Auftaktwoche wie auch in regelmäßigen gemeinsamen Austausch- und Inputformaten mit dem Schwerpunktbereich Fotografie diskutieren wird in großer Runde Beobachtungen, Ideen, Mißverständnisse und Projektansätze
– Wir arbeiten wieder in Gruppen, weil uns nicht nur der Austausch, sondern das produktive gemeinsame entwickeln entlang der gemeinsamen Fragestellung interessiert.
– im Rahmen von Workshopformaten setzen wir uns mit der Produktion von Bildern auf der Basis von Daten (Datenvisualisierung, Storytelling, GIS) und deren Relevanz (Data-Activism, Countermapping, Participatory Mapping) auseinander
– Wir sind dabei explizit medial nicht eingeschränkt sondern agieren nach inhaltlichem Bedarf. Räumliche Interventionen, Ausstellungen sind dabei ebenso möglich wie Grafik, Film und digitale Ansätze.
Voraussetzungen
Bereitschaft für eine ernsthafte, kontinuierliche und intensive Auseinandersetzung mit den Themen und mit unseren Gesprächspartnern wird vorausgesetzt. Im Laufe des Semesters setzen wir uns auch mit der eigenen Arbeitsmethodik und den Arbeitswerkzeugen auseinander und entwickeln unsere eigenen Tools. Das Projekt richtet sich an Studierende aus dem Hauptstudium im Kommunikationsdesign, steht aber nach Rücksprache auch offen für interessierte Studierende anderer Studiengänge.
Parallellaufende Angebote
Im kommenden Semester bieten wir für das Informationsdesign zusätzliche Input- und Diskussionsformate sowie Workshops an, die eine übegreifende Diskussion zu allgemeinen Fragen kritischer Designpraxis, prekären Arbeitsformen, gesellschaftlicher Relevanz und den Übergang von Hochschule zu Berufspraxis thematisieren.
Schlagworte
Aktivismus, Big Data, Commoning, Counter-Mapping, CVS, Datenvisualisierung, De-Growth, Dérive, Der-Blick-nach-oben-und-der-Blick-nach-unten, Digitale Austauschplattformen, Dorfladen, Extraktivismus, Gesangsverein Hettstett, GIS, Gulaschkanone, Identität und Wandel, Infrastruktur, Kartografie, Kommunikationskanäle, Landschaft, missbrauchte Landschaft, Nachbarschaft, Pariser Abkommen, Pariticpatory Design, Psychogeografie, Raumerfahrung, Reality Check
weiterführende Informationen:
— Stabsstelle “Strukturwandel im Mitteldeutschen Revier”, Staatskanzlei und Ministerium für Kultur des Landes Sachsen-Anhalt (Homepage)
— Martín Arboleda: Planetary Mine. Territories of Extraction under Late Capitalism (PDF)
— James Corner (1999): The Agency of Mapping. Speculation, Critique and Invention (PDF)
— Keller Easterling (2014): Extrastatecraft. The Power of Infrastructure Space (PDF)
— Arturo Escobar (2018): Designs for the Pluriverse (PDF)
— Hendrik Sander, Bastian Siebenmorgen, Sören Becker (2020): Kohleausstieg und Strukturwandel, Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.) (PDF)
— Initiative Ende Gelände (Homepage)
— Naomi Klein (2014): This changes everything. Capitalism vs the Climate (PDF)
— Konzeptwerk Neue Ökonomien (Homepage)
— Bruno Latour (2017): Facing Gaia. Eight Lectures on the New Climatic Regime (PDF)
— Steffen Mau (2019): Lütten Klein. Leben in der Ostdeutschen Transformationsgesellschaft (E-PUB)
— Mauvaise Troupe Collective (2014): Defending the ZAD (PDF)
— Werner Nell, Marc Weiland (2019): Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch (PDF)
— Simon Schaffer, John Tresh, Pasquale Gagliardi (2017): Aesthetics of Universal Knowledge (PDF)
— The Invisible Committee (2009): Der kommende Aufstand (PDF)