Praxisprojekt von Maren Schleimer und Sofia Simeth im Rahmen des Masterstudiengangs Kunstwissenschaften. Die Publikation versammelt persönliche Geschichten, die Menschen aus der Region mit Bernstein, Braunkohle, Rhyolith/Porphyr und Salz verbinden.

In Zeiten des Klimawandels und der Ressourcenknappheit gewinnen Materialien zunehmend an Relevanz. Während sie in der Vergangenheit häufig auf ihren Wert als Rohstoff reduziert wurden, wendet sich der aktuelle Diskurs vermehrt ihrem identitätsstiftenden Charakter zu. Der Soziologe Bruno Latour argumentiert, dass Materialien eine aktive Rolle in sozialen Prozessen spielen und somit auch Beziehungen zwischen Menschen beeinflussen. Dabei geht er von einer symmetrischen Betrachtungsweise aus, bei der sowohl menschliche als auch nicht-menschliche Akteur*innen gleichermaßen berücksichtigt werden (vgl. Latour 2008). Die amerikanische Theoretikerin Jane Bennett verwendet den Begriff der „Ding-Macht“. Laut Bennetts vitalem Materialismus sind Akteur*innen unserer Umgebung enger miteinander verwoben als bisher angenommen. Sie würden wie in einem hierarchielosen Gefüge funktionieren, sich gegenseitig beeinflussen und voller Lebendigkeit pulsieren (vgl. Bennett 2020).
Diese Denkansätze bildeten das Fundament unseres Forschungsinteresses — was verbirgt sich hinter einem Material und welche Rolle spielt es in sozialen Lebensräumen von Menschen?
Mit dem Praxisprojekt „Erzähl mir Material“ haben wir uns auf die Suche nach bisher unerzählten Geschichten zu Halle (Saale) und Umgebung gemacht. Wir haben versucht, dem narrativen Potenzial verschiedener lokaler Materialien nachzuspüren und über dieses Thema mit anderen Menschen ins Gespräch zukommen.
Die von uns ausgewählten Materialien Salz, Bernstein, Rhyolith und Braunkohle haben wir als „lokal“ bezeichnet, da sie durch ihr besonders hohes Vorkommen und durch ihre Ver- und Bearbeitung vor Ort eng mit der Region verbunden sind. Sie haben die Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner*innen von jeher aktiv mitbestimmt und vermögen noch heute über Vergangenes zu berichten. Denn Materialien erzählen immer auch etwas über die Orte, an denen sie vorzufinden und über die Zeit, in der sie entstanden sind.
Um diese Geschichten erlebbar zu machen, braucht es Stimmen, die erzählen.
Diese Stimmen wollten wir finden, ihnen zuhören und ihre Geschichten auch anderen zugänglich machen. Über einen Zeitraum von sechs Monaten haben wir verschiedene Institution, Vereine und Gruppierungen kontaktiert und vor allem auch versucht, Einzelpersonen zu erreichen, um mit ihnen in den Dialog über die Eigenschaften der Materialien zu treten. Wir wollten uns breit vernetzen und gemeinsam über Materialgeschichte(n) nachdenken und sprechen.
Wir entschlossen uns dazu, die dabei gesammelten Geschichten in Form einer Publikation herauszugeben.
Die Textsammlung für unsere Publikation entstand einerseits durch die bereits geknüpften Kontakte, andererseits durch eine öffentliche Ausschreibung und eine Schreibwerkstatt mit Studierenden der BURG. Während die Ausschreibung darauf abzielte, ein breites Publikum zu erreichen, richtete sich die Schreibwerkstatt an eine kleine, geschlossene Gruppe, die über einen längeren Zeitraum intensiv am Thema arbeitete und die Materialien kennenlernte.
Mit einem Release- und Lesungsevent im Salinemuseum Halle veranstalteten wir einen Abend mit den beteiligten Autor*innen, um „Erzähl mir Material“ der Öffentlichkeit vorzustellen.
Wir haben gelernt: „Erzähl mir Material“ ist noch nicht auserzählt. Das Gespräch über Materialien lässt sich noch auf  weitere Personen, Orte und Vermittlungsformate übertragen. Was erzählt dir Material?

 

Literatur
Bennett, Jane: Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge. Berlin 2020
Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt 2008