Lassen sich die Wunderkammern als Gefüge (assemblage) im Sinne des New Materialism verstehen? Wird in ihnen – und mit der Aktualisierung durch zeitgenössische Künstler*innen – die Vitalität der Dinge und deren ganz eigene „agency“ greifbar? Ließen sich hier die Subjekt-Objekt-Relationen fluide halten, da, anders als in den separierenden Spartenmuseen seit dem 18. Jahrhundert, die Kategorien durch Anschauung und Argumente verschiebbar waren? Oder sind diese Ermächtigungsvorstellungen Projektionen aus einem heutigen Weltverständnis heraus, das von Rationalismus und Transformationsprozessen geprägt ist? Und wie lassen sich diese speziellen Orte des Zusammentreffens von vielerlei Dingen ganz unterschiedlicher Provenienz ethisch fassen?
Wunderkammern, Kuriositätenkabinette oder Kunst- und Naturalienkammern sind spezielle Sammlungen, die vor allem seit der Renaissance die zunehmend komplexer sich darstellende Welt anhand von Gegenständen spiegeln sollten. In den Kabinetten wird ein Welttheater aufgeführt, wird rhetorisch die Entsprechung zwischen Mikro- und Makrokosmos behauptet. Die Kabinette dienten der Präsentation der Fülle des universal Gegebenen: zum Studium aber auch zur Selbstdarstellung.
Als Beispiele der Natur, der erklärenden oder spekulierenden Wissenschaften, als Exempla der Kunst oder Kunstfertigkeit, als Zeugnisse der Exotik ferner, häufig kolonisierter Länder oder gar des ein Staunen hervorrufenden Unerklärlichen sollte man das Inventar der Kabinette regelrecht „begreifen“ können. Man konnte die Objekte anfassen, einander zeigen, über ihre Bedeutung Vermutungen anstellen und sie damit in immer wieder neue Zusammenhänge einordnen. So wird eine Wahrnehmungs- und Platzierungspraxis umgesetzt, in der Erzählen, Aneignen, Sammeln, Beschreiben und Vorführen eng miteinander verknüpft sind.
Wir werden uns nicht nur mit der Historie und der Rezeptionsgeschichte der Wunderkammern beschäftigen, sondern vor allem mit den Bezugnahmen zeitgenössischer Künstler*innen auf deren Materialvielfalt. Werke von Ana Maria Maiolino, Daniel Spoerri, Antonia Baum, Takako Saito, Alexandra Hendrikoff, William Kentridge, Mark Dion, Julius von Bismarck u.a. könnten näher betrachtet werden; die Auswahl sprechen wir ab.
Die semantische Offenheit der Wunderkammer liefert die Möglichkeit, Entdeckungen zu machen, Neuinterpretationen an deren Exponate anzuschließen und die hinter den Dingen – und Kunstwerken, den teils hybriden Objekten – stehenden Legenden als Anknüpfungspunkte für ein Weitererzählen zu nutzen. Daher soll im Seminar Raum dafür gegeben werden, Objektbiographien, Dinggeschichten und Werkskizzen zu schreiben.
Anlass für das Seminar liefert das dreißigjährige Jubiläum der Wiedereröffnung der Franckeschen Kunst- und Naturalienkammer. Und da wir in ihrem Jubiläumsjahr mit den Franckeschen Stiftungen kooperieren wollen, könnte sich im Herbst eine kleine Studioausstellung oder ein anderes noch zu entwickelndes Format im historischen Gebäude des Waisenhauses umsetzen lassen.
Literatur und Vorbereitungsempfehlung / Literature and recommendation on preparation
- Nike Bätzner (Hg.): Assoziationsraum Wunderkammer. Zeitgenössische Künste zur Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Wiesbaden 2015.
- Nike Bätzner: Lachende Leoparden und gewendete Gemälde. Über die Rolle des Trompe l’Œil in den Wunderkammern. In: Excessive Mimesis. Trompe l’Œils und andere Überschreitungen der ästhetischen Grenze. Hg.: Helga Lutz, Bernhard Siegert. München 2020, S.223–244.
- Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 2000.
- Patrick Mauriès: Das Kuriositätenkabinett, Köln 2011.
- Thomas Müller-Bahlke: Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen. Halle 2012.
- Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Erstm. französ. 1987, Berlin 1988.
- Weitere Literatur: Seminarapparat in der Bibliothek bzw. BurgBox
Name der Lehrenden / Name of Teacher
Prof. Dr. Nike Bätzner
Lernziele, Qualifikationsziele / Objectives, Learning Outcome
- Erarbeitung theoretischer und diskursiver Zugänge zu historischem Wissen
- Einbindung disziplinärer und transdisziplinärer Theorien zum tieferen Verständnis der jeweiligen Fachdisziplinen
- Fähigkeit, das kulturelle, gesellschaftliche und politische Diskursfeld, in dem sich die Inhalte bewegen, zu reflektieren
- Verständnis für die Verbindung von Theorie und Praxis
Beurteilung / Assessment
Studierende Diplom Kunst: Teilnahmeschein (unbenotet), Leistungsschein (Kurzreferat und benotete Hausarbeit);
Studierende Kunst (Lehramt): Teilmodulleistung (unbenotete Präsentation) oder/und Modulprüfung (Präsentation und benotete schriftliche Hausarbeit);
Studierende Master Kunstwissenschaften: Teilmodulleistung (unbenotete Präsentation oder Präsentation plus benotete schriftliche Hausarbeit)