„Es gibt gegenwärtig eine große Anzahl von Menschen, die, ohne voneinander zu wissen, doch alle durch ein gemeinsames Los verbunden sind“, schrieb Siegfried Kracauer vor hundert Jahren. Bis heute wissen Menschen nicht viel voneinander. Kracauer versucht, das kollektive Schicksal der einsamen Seelen zu begreifen, indem er sich ihnen und ihrer Wirklichkeit zuwendet: Leuten und Dingen, Straßen und Lokalen, Stehbars und Wärmehallen. Nicht durch historische Ableitungen oder politische Parolen sei der Welt näher zu kommen, sondern anhand unbeachteter Regungen und unscheinbarer Oberflächenphänomene wie Körperkultur und Geschmackswandel. In den unbewussten Formationen und Mustern der Populärkultur erkennt Kracauer das „Ornament der Masse“ als ästhetische Reaktion auf die Rationalität des Kapitalismus. Mag das Massenornament Schund sein, für Kracauer steht es „seinem Realitätsgrad nach“ höher als wirklichkeitsferne Kunst. Wer was von der Welt wissen will, sollte sich also eher mit der Formsprache der Fußball-WM der Damen beschäftigen als mit Documenta und Biennale? Ist das realistisch?
So wunderlich und transdisziplinär wie sein Realismus war Kracauer selbst: erst Architekt, dann Soziologe und Philosoph, mal Journalist und Schriftsteller, schließlich wurde er als Begründer der Filmtheorie in Amerika berühmt. Ein Außenseiter und Einzelgänger, der dennoch Kontakt zu signifikanten Milieus der Geistesgeschichte wie der frühen Kritischen Theorie und der sog. jüdischen Renaissance pflegte.
Das Seminar fokussiert seine Essays aus den zwanziger Jahren und versucht zu denken wie der Autodidakt Kracauer – wie ein Reisender, dem jeder Alltag absurd und exotisch erscheint, weil ihm alles Selbstverständliche fremd ist.
Siegfried Kracauer:
- Die Angestellten. Kulturkritischer Essay. Frankfurt a.M. 1930
- Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a.M. 1963
- Straßen in Berlin und anderswo. Frankfurt a.M. 1964