Die Erfindung der Zentralperspektive im Italien des 15. Jahrhunderts bezeichnet nicht nur ein Datum der Kunstgeschichte, sondern auch der Philosophie. Die Vereinheitlichung und geometrische Neuordnung des Bildraums hat mit einer neuen Art der Wahrnehmung zugleich eine neue Denkform hervorgebracht. Die perspektivische Konstruktion der Wirklichkeit, die zunächst nur einen ›special effect‹ der Renaissance-Malerei darstellt, wird zum Inbegriff vernünftiger, realistischer Wahrnehmung, zum privilegierten Instrument frühneuzeitlicher Weltbemächtigung. Der Etablierung und Durchsetzung der perspektivischen Sehweise entspricht die Einrichtung eines punktförmigen, neutralen Betrachtersubjekts, eines sub- jectums (Heidegger), für das die Welt zum Bild, zur geometrisch konstruierten und berechenbaren Vor-Stellung geworden ist. Im 20. Jahrhundert wurde diese perspektivische Denkform, die in den westlichen Kulturen den Status einer ›natürlichen‹ Wahrnehmungsweise erlangt hatte, zunehmend als eine künstliche, ›ideologische‹ Konstruktion erkannt und kritisiert. Im Seminar soll diese Tradition der Perspektiv-Kritik anhand einiger Schlüsseltexte nachgezeichnet werden – von Panofsky, Heidegger und Lacan über die Apparatus-Theorie der 1970er Jahre bis zur Deleuze’schen Theorie des Bewegungs-Bildes. Zugleich soll verfolgt werden, wie sich die Diskussion um die formierende Macht der Zentralperspektive in der Praxis der künstlerischen Avantgarden niedergeschlagen hat.
Literatur:
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Baudry, Jean-Louis: »Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus«, in: Philip Rosen (Hg.), Narrative, apparatus, ideology. A film theory reader, New York: Columbia University Press, 1986, 286–298.
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Crary, Jonathan: »Kapitel 2: ›Die Camera obscura und ihr Subjekt‹«, in: Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden [u.a.]: Verl. der Kunst, 1996, 37–73.
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Damisch, Hubert: »›Ist die Perspektive passé?‹«, in: Hubert Damisch, Der Ursprung der Perspektive, Zürich: Diaphanes, 2009, 42–59.
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Debord, Guy: »Erstes Kapitel«, in: Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg: Edition Nautilus, 1978, 5–16.
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Deleuze, Gilles: »Viertes Kapitel: Das Bewegungs-Bild und seine drei Spielarten. Zweiter Bergson-Kommentar«, in: Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, 84–102.
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Heidegger, Martin: »Die Zeit des Weltbildes« (1938), in: Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt am Main: Klostermann, 1980, 73–110.
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Jay, Martin: »Kapitel 8: ›The Camera as Memento Mori: Barthes, Metz, and the Cahiers du Cinema‹«, in: Martin Jay, Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth- Century French Thought, Berkerley: University of California Press, 1993, 435–492.
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Panofsky, Erwin: »Die Perspektive als symbolische Form« (1927), in: Erwin Panofsky, Deutschsprachige Aufsätze, hg. v. Karen Michels und Martin Warnke, Berlin: Akademie-Verlag, 1998, 664-683; 741-757.
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Pleynet, Marcelin: »Economic - Ideological - Formal [Interview mit der Zeitschrift Cinétique]«, in: Sylvia Harvey (Hg.), May 1968 and film culture. Contextualising radical aesthetics, London, 1978, 149–164.
Film
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Der Kontrakt des Zeichners. The draughtsman's contract. Regie: Peter Greenaway, UK 1982.