Seit der Antike beschäftigt die Erkenntnistheorie sich mit der Frage, ob psychische und physische Zustände voneinander zu trennen seien und wenn ja, wie. Für das so genannte Leib-Seele-Problem bzw. Körper-Geist-Problem hat die Philosophie unterschiedliche Lösungen vorgeschlagen. Die Phänomenologie aber hat eine neue Frage gestellt: Was unterscheidet eigentlich Leib und Körper? Stimmt es, dass wir einen Körper haben, aber Leib sind? Ist der lebendige Leib die Schnittstelle zwischen dem biologischen Körper und dem freien Geist? Oder ist der Leib verglichen mit dem profanen Körper geradezu übersinnlich und eigentlich ein metaphysisches Phantasma? Spätestens mit dem corporeal turn der Geisteswissenschaften kapriziert sich das intellektuelle Interesse vor allem auf Körper. In der Theorie wimmelt es von ihnen; es gibt plurale oder inexistente Körper bei Roland Barthes, kranke Körper bei Foucault, den Körper als Konsumgegenstand bei Baudrillard und Körper ohne Organe bei Deleuze und Guattari. Der Leib scheint eher die Ausnahme – verkörpert durch Grenz- und Extremfälle von Trunkenen, Träumenden, und Wahnsinnigen. 

Das Seminar diskutiert verschiedene Positionen zu Körper und Leib auch im Hinblick auf deren zeitgenössischen Zustand. Sind virtuelle Körper unantastbar? Ist die wirkliche Welt nur am eigenen Leib erfahrbar? Was hat es philosophisch nun mit der menschlichen Physis auf sich, wenn sie weder biologisches Faktum noch kulturelle Form ist und zugleich beides? Die nackte Wahrheit scheint jedenfalls beileibe nicht die ganze.

 

 

Literatur:

  • Emmanuel Alloa et al. (Hrsg.): Leiblichkeit. Tübingen 2019 
  • Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin 1976
  • Hans Blumenberg: Die nackte Wahrheit. Berlin 2019
  • Gerhard Böhme: Leib. Die Natur, die wir selbst sind. Berlin 2019
  • Lynn Hershman Leeson: Anti-Bodies. Berlin 2019
  • Gert Mattenklott: Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers. Hamburg 1982
  • Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966
  • David Foster Wallace: Both Flesh And Not. Essays. New York 2012