Wörter, die auf '-losigkeit' enden, haben, wenn man von den wenigen Ausnahmen absieht ('Sorglosigkeit', 'Arglosigkeit'...), meist den Geschmack des Negativen, des Mangels und der Passivität. Sie bezeichnen das Fehlen oder den Verlust allgemein als wertvoll erachteter Eigenschaften, Gefühle oder Antriebe (Bindungslosigkeit, Verantwortungslosigkeit, Treulosigkeit, Lieblosigkeit, Geschmacklosigkeit, Schamlosigkeit...); sie zeugen vom Versagen elementarer Fähigkeiten der psychischen Selbstbehauptung, vom Versinken in Resignation und Depression (Ziellosigkeit, Orientierungslosigkeit, Antriebslosigkeit, Hilflosigkeit, Wehrlosigkeit, Sinnlosigkeit, Trostlosigkeit, Lustlosigkeit, Fühllosigkeit, Schlaflosigkeit...); sie stehen für einen ganzen Komplex von Formen der sozialen Deprivation und Dysfunktionalität in einer auf Leistung und Durchsetzung getrimmten Gesellschaft (Machtlosigkeit, Erfolglosigkeit, Besitzlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Wertlosigkeit, Nutzlosigkeit...).
Sich einem Zustand der 'Losigkeit' [1] zu überlassen, erscheint nicht nur dem Alltagsverstand als beängstigend und vermeidenswert; auch in der Philosophie des 20. Jahrhunderts wurden die Lockungen der Selbstaufgabe meist als morbid und dekadent zurückgewiesen. Das gilt nicht nur für die an Nietzsche anknüpfenden Lebensphilosophien, sondern auch für die pragmatisch an Weltbemächtigung interessierten politischen Ideologien des Liberalismus, des Faschismus und des Kommunismus, die in jeweils unterschiedlicher Weise auf Tat, Kraft, Willen, Entschlossenheit, Erfolg und Produktivität setzten.
Demgegenüber interessiert sich das Seminar für jene seltenen Momente in der Philosophie und Literatur der Moderne, in denen die Zustände des Mangels, des Fehlens, der Entsagung und des Entzugs eine besondere Beachtung und Wertschätzung erfahren haben, sei es als Katalysatoren einer existenziellen Wende oder als Anknüpfungspunkte der sozialen Revolte.
[1] Das Kunstwort "Losigkeit" wurde offenbar von dem irischen Dichter Samuel Beckett geprägt: Als er 1970 den ursprünglich auf Französisch verfassten Prosatext "Sans" ins Englische übersetzte, stellte er ihn unter den neuen Titel "Lessness".
Vorläufiges Seminarprogramm:
(1) 6. April 2023
Intro / Einführung
- Franz Kafka: »Ein Hungerkünstler«, in: Franz Kafka: Erzählungen, hg. v. Max Brod, Frankfurt am Main: Fischer, 1976, 191–199.
(2) 13. April 2023
Diagnosen des Entzugs und der Erschöpfung: Denis de Rougemonts "Tagebuch eines arbeitslosen Intellektuellen" (1935); Simone Weils "Fabriktagebuch" (1934-1935)
- Denis de Rougemont: Tagebuch eines arbeitslosen Intellektuellen (1935), Meisenheim, Frankfurt am Main: Hain, 1991 (Auszüge)
- Simone Weil: Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem, Berlin: Suhrkamp, 2019 (Auszüge)
(3) 27. April 2023
Gefahr und Lockung der Selbstaufgabe: Roger Caillois' Aufsatz über "Mimese und legendäre Psychasthenie" (1935)
- Roger Caillois: »Mimese und legendäre Psychasthenie«, in: Roger Caillois: Méduse & Cie, hg. v. Peter Geble, Berlin: Brinkmann & Bose, 2007, 25–44.
(4) 4. Mai 2023
Die Feier der Nutzlosigkeit, der Selbstverschwendung: Georges Batailles "Begriff der Verausgabung" (1933)
- Georges Bataille: »Der Begriff der Verausgabung« (1933), in: Georges Bataille: Die Aufhebung der Ökonomie, hg. v. Gerd Bergfleth, München: Matthes & Seitz, 1985, 7–31.
(5) 25. Mai 2023
Die hohe Zeit der Losigkeiten: Existentialismus, Psychoanalyse, Literatur des Absurden
- Jean-Paul Sartre: Der Ekel. Mit einem Anhang, der die in der ersten französischen Ausgabe vom Autor gestrichenen Passagen enthält (1938), Hamburg: Rowohlt, 1981 (Auszug S. 144-153)
- Marguerite Sechehaye: Tagebuch einer Schizophrenen. Selbstbeobachtungen einer Schizophrenen während der psychotherapeutischen Behandlung (1950), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973 (Auszug S. 13-27).
- Samuel Beckett: »Losigkeit« (1969), in: Samuel Beckett: Erzählungen, hg. v. Elmar Tophoven u. Klaus Birkenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995, 239–245.
(6) 8. Juni 2023
Von der "Entschlossenheit" zur "Gelassenheit": Heideggers "Let it be"-Moment
- Martin Heidegger: Gelassenheit (1955), Pfullingen: Neske, 1960.
(7) 15. Juni 2023
Gilles Deleuzes und Félix Guattari: Die Welt- und Seins-Fluchten der Schizo-Subjekte im "Anti-Ödipus" (1972); Strategien des Minoritär- oder Unwahrnehmbarwerdens in "Tausend Plateaus" (1980)
- Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (1972), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977 (Auszüge).
- Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II (1980), Berlin: Merve, 1992 (Auszüge).
(8) 29. Juni 2023
Maurice Blanchot als Denker des Rückzugs: Blanchot Fassung des literarischen Schreibens als "Werklosigkeit" ("desoeuvrement"), seine Theorie (und Praxis) des Rückzugs ("désidentification", "désengagement").
- Maurice Blanchot: »Die wesentliche Einsamkeit« (1953), in: Maurice Blanchot: Der literarische Raum, hg. v. Marco Gutjahr, Zürich: Diaphanes, 2012 (Auszüge S. 14-21).
- Michael Krimper: »Désoeuvrement«, in: Christopher Langlois (Hg.): Understanding Blanchot, understanding modernism, New York, NY: Bloomsbury Academic, 2018, S. 299–301.
- Christophe Bident: Maurice Blanchot. A Critical Biography, New York: Fordham University Press, 2018, Auszug S. 248-253: »The Essential Solitude. Writing the Récits (1949–1953)«.
(9) 6. Juli
Herman Melvilles Erzählung "Bartleby" (1853) und die darin zu findende "Logik der negativen Präferenz" (Gilles Deleuze); der Bartleby-Mythos der zeitgenössischen Kunst und Populärkultur: "I would prefer not to" als Beschwörungsformel gegen die Zumutungen des neoliberalen Leistungszwangs
- Herman Melville: Bartleby. Erzählung (1853), Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1988.
- Gilles Deleuze: Bartleby oder die Formel (1989), Berlin: Merve, 1994.
Für Lektüren/Testauszüge wird ein digitaler Handapparat eingerichtet.