Seit der griechischen Antike steht der Begriff der Kritik für eine bestimmte Form des Denkens: für die Fähigkeit, die Dinge der Welt nicht wahllos zu vermischen, sondern sie auseinanderzuhalten, sie voneinander zu unterscheiden, festzustellen, was zu ihnen gehört, und was nicht. Kritisches Denken (von griechisch krinein (κρίνειν ) = unterscheiden) ist urteilendes Denken, ein Denken, das Teilungen verfügt und Einteilungen erstellt. Als solches steht es am Beginn dessen, was man Wissenschaft nennt; der Begriff scientia geht zurück auf die griechischen bzw. lateinischen Verben schazo (σχάζω) und scire, die beide die Bedeutung von spalten oder trennen haben. In der westlichen Tradition hat diese spezifische Leistung des urteilenden, unterscheidenden, analytischen Denkens spätestens seit Descartes eine absolute Vormachtstellung erlangt; kritisches Denken steht im Kern des Projekts ›Aufklärung‹ und prägt bis heute das Selbstverständnis der modernen, säkularen, ›westlichen‹ Kulturen. Zu allen Zeiten hat es jedoch neben einem überschwänglichen Gebrauch des Wortes ›Kritik‹ auch Bewegungen der Zurückweisung von kritischem Denken gegeben, das als ›zersetzend‹, ›negativ‹ oder ›trennend‹ empfunden wurde – wobei die Ablehnung von Kritik häufig dem Widerspruch ausgesetzt war, dass sie selbst als Kritik auftrat.

Das Seminar wird den wechselvollen Schicksalen des Kritik-Begriffs auf drei verschiedenen Feldern nachgehen:

1. Philosophie/Wissenschaftstheorie: Wenn Kant in seiner »Kritik der reinen Vernunft« (1781) davon sprach, dass »allein der kritische Weg noch offen« sei, so stellt sich heute der Eindruck ein, dass dieser Weg nicht mehr ganz unbekümmert weiterverfolgt werden kann. So ist der Begriff der Kritik zwar nach wie von zentraler Bedeutung für die postkoloniale Theorie (vgl. z.B. Achille Mbembes "Kritik der schwarzen Vernunft"); es ließe sich aber auch danach fragen, inwieweit ein derart eurozentrischer Begriff sich überhaupt in ein Projekt zur Dekolonialisierung des Denkens fügen kann. Andere Schwierigkeiten tun sich in der heutigen Debatte um wissenschaftliche Wahrheit und ›post truth‹ auf: Vertreter der hard sciences fragen polemisch, ob nicht ein Übermaß an (geisteswissenschaftlicher) Kritik, an ›Dekonstruktion‹, dem heutigen rechten Denken in ›alternative facts‹ in die Hände gespielt habe – ein Vorwurf, der vielleicht ungerecht ist, der sich aber auch nicht unbesehen zurückweisen lässt.

2. Politik: Wie der Historiker Reinhart Koselleck gezeigt hat, waren es eine Kultur der öffentlichen Kritik und ein Kult der moralischen Überlegenheit, mit deren Hilfe sich das aufgeklärte Bürgertum im 18. Jahrhundert effektiv gegen den fürstlichen Absolutismus durchsetzen konnte. Seitdem haben alle reformistischen oder revolutionären Bewegungen der Moderne auf die Waffe der Kritik gesetzt, und sie haben zugleich lebhaft darüber gestritten, wie von ihr am besten Gebrauch zu machen sei. Hannah Arendt lobte die Kritik als Ausübung von politischer Urteilskraft; Theodor W. Adorno sah in ihr die einzig mögliche philosophische Haltung angesichts der Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Kritik konnte sich aber auch als lähmend und ganz und gar unkritisch erweisen, nicht nur in den stalinistischen Ritualen der „Kritik und Selbstkritik“, sondern auch in der Praxis der linken Selbstzerfleischung, wie sie beispielsweise in den kommunistischen und autonomen Splittergruppen der 1970er und 80er Jahre stattfand. Uneindeutig ist auch die heutige Lage: Neben einem verbreiteten "Unbehagen an der Kritik" finden sich auch Versuche zu ihrer Wiederbelebung: In Anlehnung an Foucaults Konzept des "Wahrsprechens" plädiert z.B. Judith Butlers für eine Haltung der "rücksichtslosen Kritik".

3. Kunst: Eine der ältesten Anwendungen des Begriffs Kritik betrifft die Literatur und öffentliche Rede: Unter einem "Kritiker" versteht in man in der römischen Antike in einen Rhetorik- oder Literaturkritiker. Eine eigenständige Kultur der "Kunstkritik" (im Unterschied zu Malerbiografien oder Bildbeschreibungen, wie sie seit der Renaissance gängig waren) entwickelt sich in der Pariser Salons des 18. Jahrhunderts. Seitdem stehen Kunst und Kritik in einem gespannten Verhältnis: Inwiefern kann ein kritisches, d.h. analytisches, von außen kommendes Urteil (vgl. den Begriff des "Kunstrichters") überhaupt dem Kunstwerk gerecht werden; muss die Rücksicht auf mögliche Kritik die künstlerische Produktion beeinträchtigen oder kann sie sie möglicherweise auch anregen; welche Formen der Abhängigkeit, der Unterwürfigkeit oder der symbiotischen Koproduktion entstehen zwischen Künstler:in und Kritiker:in? Auch in der Kunstkritik wird heute von einer "Krise" gesprochen: Wie lässt sich diese "Krise der Kunstkritik" fassen, und in welcher Verbindung steht sie zu den Krisen der Kritik, die sich auf dem Feld der Philosophie/ Wissenschaftstheorie und der Politik beobachten lassen? 

 

Programm (mit Lektüren)

(Texte werden den Seminarteilnehmer:innen in Auszügen zur Verfügung gestellt)

(01) 13. Oktober 2022 (Intro)


PHILOSOPHIE

(02) 20. Oktober

Immanuel Kant: »[Auszug aus der] Vorrede zur zweiten Auflage«, in: ders.: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Raymund Schmidt, Hamburg: Meiner, 1976, 23–32.

Hannah Arendt: »Über Kants Politische Philosophie. Vorlesung, gehalten an der New School for Social Research, New York, im Herbstsemester 1970. [Auszug:] »Fünfte Stunde« und »Sechste Stunde«, in: Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie; dritter Teil zu 'Vom Leben des Geistes', hg. v. Ronald Beiner, München, Zürich: Piper, 2012, S. 45-64.

(03) 3. November  

Michel Foucault: »Vortrag ›Was ist Kritik?‹« (1978), in: Michel Foucault: Was ist Kritik?, Berlin: Merve, 1992, 6–29.


POLITIK

(04) 10. November

Karl Marx: »M[arx] an R[uge]« (1843), in: Karl Marx u. Friedrich Engels: Werke (MEW), hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin: Dietz, 1956 ff., 343–346.

Karl Marx u. Friedrich Engels: »Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik«, in: Karl Marx u. Friedrich Engels: Werke (MEW), hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 2, Berlin: Dietz, 1956 ff., [Auszug:] S. 7-16.

(05) 24. November

Theodor W. Adorno: »Kritik« (1969), in: Theodor W. Adorno: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1971, 10–19.

Hans-Jürgen Krahl: »Das Elend der kritischen Theorie eines kritischen Theoretikers. Eine Antwort auf Jürgen Habermas«, in: Hans-Jürgen Krahl: Konstitution und Klassenkampf. Schriften und Reden 1966-1970, Frankfurt Main: Verlag Neue Kritik, 1985, 246–254.

Theodor W. Adorno: »Resignation«, in: Theodor W. Adorno: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1971, 145–150.

(06) 1. Dezember

Bruno Latour: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich, Berlin: Diaphanes, 2007, [Auszug], S. 7-33.

(07) 15. Dezember

Isabell Lorey: »Konstituierende Kritik. Die Kunst, den Kategorien zu entgehen«, in: Birgit Mennel (Hg.) Kunst der Kritik, Wien: Turia & Kant, 2010, 47–64.


KUNST

(08) 22. Dezember

Friedrich Hölderlin, »Urteil und Sein«, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Friedrich Beißner, Frankfurt a. M., 1965, 947–948.

Christoph Menke: »Das Urteil: zwischen Ausdruck und Reflexion«, in: ders.: Die Kraft der Kunst, Berlin: Suhrkamp, 2014, 56–81.

(09) 19. Januar 2023

Bitte für diese Sitzung die für 22. Dezember angekündigten Texte lesen (Das Seminar im Dezember ist mangels TeilnehmerInnen ausgefallen).


(10) 26. Januar

Alice Creischer, Lukas Duwenhögger, Susanne von Falkenhausen, u.a.: »Stimmen zum Methodenstreit«, Texte zur Kunst, N° 29, 1998, 79–94.

Jens Kastner: »Zur Kritik der Kritik der Kunstkritik. Feld- und hegemonietheoretische Einwände«, in: Birgit Mennel (Hg.)Kunst der Kritik, Wien: Turia & Kant, 2010, 125–148.