»Der Parasit« des Philosophen Michel Serres ist keine leichte Lektüre, gerade auch deshalb, weil das Buch nicht streng theoretisch argumentiert, sondern eher als Literatur daherkommt, als eine Sammlung von Fabeln, die die Figur des Parasiten eher umkreisen als definieren. Die Rezeption des Buchs hat sich bisher vor allem auf einen Aspekt konzentriert, der mit der technischen Bedeutung des Worts »parasite« zu tun hat: Ein Parasit, das ist im Französischen oder auch im Englischen ein Störgeräusch; es wird damit das ›Rauschen‹ im Kanal bezeichnet, das die Botschaft überlagert und unverständlich werden lässt. So ist das Konzept des Parasiten vor allem als ein Beitrag zur Kommunikationstheorie wahrgenommen worden, als eine Komplikation und Subversion des informationstheoretischen Modells von Sender-Kanal- Empfänger. Das Seminar will darüber hinaus einen bisher weniger beachteten Aspekt der Serres’schen Parasitologie beleuchten: »Der Parasit« liefert nicht zuletzt eine neue, verstörende Beschreibung der ökonomischen Verhältnisse: Am Anfang steht nicht die produktive, nützliche, Gebrauchswerte schaffende Arbeit; am Anfang steht vielmehr die parasitäre Aneignung, die listige Ausnutzung von ›Beziehungen‹ und ›Vorteilen‹: »Der Mensch ist des Menschen Laus.« Im Seminar wird zu diskutieren sein, was mit einer solchen Diagnose anzufangen ist: Handelt es sich bei der parasitischen Beziehung um eine universelle Konstante oder beschränkt sich ihre Gültigkeit auf eine die damals (1980) einsetzende neoliberale Umgestaltung der ökonomischen Beziehungen? Lässt sich daraus eine gültige Beschreibung des heutigen Daten- und Finanzkapitalismus gewinnen? Was heißt es, »das parasitäre Verhältnis [als] das Atom unserer Beziehungen« zu begreifen? Muss dies auf eine zynische Akzeptanz der wechselseitigen Übervorteilung hinauslaufen, oder lässt sich daraus, wie Michel Serres andeutet, so etwas wie eine Ökologie des Parasitären, eine Ethik des wechselseitigen Von-einander-abhängig-Seins entwickeln?
Literatur:
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Serres, Michel: Der Parasit (1980), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981.
- Serres, Michel: Das eigentliche Übel. Verschmutzen, um sich anzueignen?, Berlin: Merve, 2009.
Begleitlektüre in Auszügen: -
Balzac, Honoré de: Cousin Pons oder Die beiden Musiker. Roman (1847), Zürich: Diogenes, 2009.
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Diderot, Denis: Rameaus Neffe. Ein Dialog. Aus dem Manuskript übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Johann Wolfgang Goethe (1805), Stuttgart: Reclam, 2007.
Film:
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Parasite; Republik Korea, 2019, R: Bong Joon-ho